- Download:
Zu hören gibts hier Stimmen aus einem Flüchtlingslager auf der Insel Chios in Griechenland. Sie berichten über die Lage im Camp und von Angriffen von Faschisten.
Seit im März dieses Jahres der EU-Türkei Deal abgeschlossen wurde, ist eine Weiterreise für ankommende Geflüchtete auf Chios Richtung Europa oder auch nur aufs griechische Festland nahezu unmöglich. Sind die wenigen, jedoch lebensgefährlichen Kilometer von der Türkischen Küste überwunden, finden sich die Geflüchteten in einem Gefängnis in Inselform wieder. Die Lager Vial und Souda sind überfüllt und die Versorgung schwer mangelhaft. So ist das Camp Souda seit einer Woche ohne Strom und die Zelte können auch bei kaltem Wind und Regen nicht beheizt werden. Einige der BewohnerInnen traten in den letzten Tagen in Hungerstreik, einer von vielen Hilferufe des letzten Jahres.
Die radikale Rechte im Aufschwung
Seit Sommer 2015 verfolgen wir die Situation auf Chios. Jeder unserer Besuche bot ein weiteres Szenario der Menschenverachtung. Von der „Unterbringung“ von Geflüchteten auf einem Friedhof ohne Dach über dem Kopf und Nahrung über die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung, bis hin zu faschistischen Angriffen. Die mehrtägigen Angriffe auf Geflüchtete im vergangenen November war einer der Höhepunkte. Schon Wochen zuvor hatten etwa 3.000 InselbewohnerInnen gegen Flüchtlinge und die Regierung demonstriert. Es war die größte Demonstration der Geschichte der Inselhauptstadt Chios, wo rund 25.000 Menschen leben.
Die rechtskonservative Mehrheit der InselbewohnerInnen hatte genug von den Nachrichten über Aufständen der im Elend lebenden Geflüchteten. Geschichten über gewalttätige und plündernde Flüchtlinge machten die Runde. Schon seit dem Aufstand im Lager von Vial und der darauffolgenden Hafenbesetzung im April, nahmen die Übergriffe auf Geflüchtete und solidarische Menschen zu. Als sich Mitte November die Köpfe der rechtsradikalen Goldenen Morgenröte ein Stelldichein auf der Insel gaben, um die instabile Lage auf der Insel zu nutzen, eskalierte die Lage erneut. Einheimische und vermutlich auch vom Festland angereiste Faschisten starteten Angriffe auf das Lager von Souda. Dieses Lager befindet sich in einem Burggraben im Stadtzentrum und beherbergt etwa 1.000 Geflüchtete. Die mindestens fünfzig Angreifer waren teilweise mit Helmen und Stöcken ausgerüstet und attackierten die Geflüchteten von vier Seiten mit Brandsätzen und Steinen. Während die Geflüchteten die Angreifer am Hintereingang am Eindringen hinderten, brannten am Vordereingang schon die ersten Zelte. Von der Burgmauer wurden bis zu fußballgroße Steine geworfen. Zweifelsfrei mit dem Ziel, Menschen schwer zu verletzen oder zu töten. Auch von den angrenzenden Häusern wurden Brandsätze und Steine geworfen. Erst drei Stunden nach den ersten Notrufen rückte die Bereitschaftspolizei an. Anstatt jedoch den Angriffen ein Ende zu setzen, wurden sie von der Polizei weitergeführt. Menschen die den Polizisten im Lager in die Quere kamen, wurden angebrüllt oder geschlagen. Etwa 40 BewohnerInnen des Lagers wurden verhaftet. Unter ihnen auch drei freiwillige HelferInnen. Auf der Polizeistation wurden die Festgenommenen schikaniert und beschimpft. Aus Angst vor angedrohten weiteren Angriffen von Polizei und Faschisten, verließen die betroffenen HelferInnen nach zwei Tagen Haft die Insel.
Es folgten weitere Tage der Eskalation. Abwechselnd tauchten Polizei und Faschisten rund um das Lager auf und es kam zu weiteren Angriffen. Bei einem davon erlitt eine Frau eine Fehlgeburt. Offiziell sprachen Ärzte von Schock als Ursache, die Frau berichtete jedoch, dass sie von Polizeibeamten geschlagen worden sei. Weitere Geflüchtete wurden verletzt und teilweise im Spital behandelt.
Nach Tagen der Gewalt änderte die Polizei ihre Taktik und präsentiert sich seither als Bewacher des Lagers. Dennoch: Keiner der Faschisten sitzt in Haft und noch immer liegen auf den Balkonen der angrenzenden Häuser Steine wurfbereit.
„We want to say thank you to the fascists“
Ein Mann aus dem Libanon erzählt uns seine Eindrücke von den Angriffen. Die Faschisten sind anscheinend die Einzigen, denen wir wichtig sind, meint er. Dafür dankt er ihnen. Sie haben den Geflüchteten gezeigt, dass sie noch am Leben sind und ihnen wieder Energie gegeben. Er zwinkert, den Humor haben sie ihm noch nicht genommen.
Die Insel ist für Geflüchtete und solidarische Menschen gefährlich geworden. Ein einheimischer Helfer wurde auf offener Straße von einem Mob zusammengeschlagen, als er mit einer Familie Geflüchteter unterwegs war. Sich alleine bei Dunkelheit auf der Straße zu bewegen, ist in bestimmten Teilen der Stadt riskant. Im Hafenbereich sind immer wieder Faschisten zu beobachten, welche bereit sind, Jagd auf Geflüchtete zu machen, die versuchen, auf das Schiff nach Piräus zu gelangen. Der Eingang zum Hafenbereich wirkt wie eine Hochsicherheitszone und wird von Frontex, Polizei, Hafenpolizei und Militär bewacht. Alle Reisenden werden einem kurzen Griechischtest unterzogen: „Taxidevete?“, Reisen Sie? Dokumente ausländischer Reisender werden genau auf Echtheit geprüft und auch mit Befragungen der Frontex- BeamtenInnen ist zu rechnen. Auch wir wurden aufgefordert, unseren Aufenthalt auf der Insel zu rechtfertigen.
Zerknirscht stehen wir an der Reling und starren auf unsere syrischen Freunde die uns „aus Sicherheitsgründen“ zum Hafen begleitet haben. Wir lassen sie zurück und begeben uns auf den Weg in den sicheren Hafen von Piräus.
Chios ist eine Pufferzone und soll denen, die auf der anderen Seite der Meeresenge warten signalisieren, ihr seid nicht willkommen. Das “Friedensprojekt” Europa verteidigt die tödlichste Grenze der Welt mit allen Mitteln. Auf europäischen Druck werden auf Chios Menschen festgehalten und zum Dahinvegetieren gezwungen. Der Wille von Menschen, die auf Suche nach einem neuen Leben sind, soll gebrochen werden. Nur wenige, willkürlich Ausgesuchte, so scheint es, schaffen es durch die langsam mahlenden Mühlen der Behörden und dürfen weiterreisen. Andere, die Geld auf der Seite haben, können riskieren, einen teuren, illegalen Weg zu finden.
Die Niedergeschlagenheit und Enttäuschung ist spürbar wie der eisige Winterwind. Keiner derer mit denen ich gesprochen habe, träumt noch von dem „sweet dream“ Europa. Der europäische Plan funktioniert. Für einige ist Athen das neue Ziel, andere wollen zurück nach Syrien. Lieber in Würde sterben, als hier zu leben wie die Tiere. Suizidgedanken häufen sich, die einzige Motivation weiterzumachen, ist oft die Zukunft von Kindern und Familien.
Wie sich die Situation von Tag zu Tag weiterentwickelt, ist unklar. Der Druck auf die Behörden wächst. Die Anwesenheit von solidarischen Menschen auf Chios und anderen Grenzzonen ist jedoch jederzeit notwendig. Leider sind im Laufe des letzten Jahres, auch aufgrund der Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung, viele Leute von der Insel abgezogen. Wie wichtig jedoch die Anwesenheit ist, haben kürzlich auch die Richtigstellungen der Medienberichte über die Angriffe gezeigt. Zu Beginn sprachen europäische Medien von Attacken durch Flüchtlinge auf Einheimische. Nach Intervention und Richtigstellungen von freiwilligen HelferInnen wurden Berichte umgeschrieben. Wir dürfen nicht müde werden uns an die Seite unterdrückter Geflüchteter zu stellen und versuchen ihre Stimmen zu stärken.
Nie wieder Faschismus – Nieder mit den Grenzen
Video von den Angriffen